Wenn Kinder belastende Erfahrungen machen mussten, kann dies verschiedene Folgen haben. Eine davon ist die sogenannte Parentifizierung. Was dies ist und bedeutet, erfährst du in diesem Artikel.

    Der Begriff Parentifizierung beschreibt eine Familienstruktur, in der ein Kind eine elterliche Rolle einnehmen muss. Es kann als Rollentausch in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern gesehen werden. Nicht mehr die Eltern, sondern die Kinder sind dann für das Wohlergehen der Familie zuständig. Ausgelöst wird dieser Prozess von den Erwachsenen, indem sie die Position des Kindes zum Elternteil verändern. 1

    Die Erfüllung elterlicher Aufgaben durch Kinder ist oft sehr herausfordernd, insbesondere dann, wenn in der Familie viel Stress und andere Belastungsfaktoren herrschen. Kinder können in diesem Zusammenhang auch andere Rollen übernehmen, die häufig das Alter und die Fähigkeiten des Kindes übersteigen, wie z. B. die Erziehung von Geschwistern oder die Pflege anderer Familienmitglieder. 2

    Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie dieser Rollentausch entstehen kann. Ein Auslöser kann eine Traumatisierung der Eltern sein, denen es dadurch nicht mehr möglich ist, ihren elterlichen Pflichten nachzukommen. Bedingt durch die nicht bewältigbare Situation steigt der Elternteil aus der elterlichen Verantwortung aus und übergibt diese dem Kind. Meistens geschieht dies in der Hoffnung, später die Funktionen als Elternteil wieder aufnehmen zu können. Parentifizierung findet häufig in Familien statt, in denen ein Mitglied erkrankt, verstirbt, körperlich oder psychisch beeinträchtigt ist oder die Eltern sich trennen – siehe hierfür auch den Artikel belastende Kindheitserfahrungen.

    In Untersuchungen zeigte sich, dass Parentifizierung positive, aber auch negative Folgen für die Entwicklung eines Kindes haben kann. 3 Ob sie für ein Kind entwicklungsfördernd oder entwicklungshemmend ist, hängt von der bisherigen Entwicklung des Kindes, aber auch von dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten ab und inwiefern die Aufgaben hierzu passen. Wenn die Aufgaben jedoch dem Entwicklungsstand des Kindes angemessen sind, lernt dieses, Aufgaben selbständig bewältigen zu können. Damit kann es die Autonomie und den Selbstwert sogar stärken.

    Allerdings kann das „Sich-Herausnehmen“ der Eltern zu einer Überforderung und emotionalen Verwirrung der Kinder führen. Auf einmal ist das Kind zuständig für das Umsorgen eines Elternteils und/oder der Geschwister. Die eigenen kindlichen Bedürfnisse werden häufig zurückgenommen. Bei den Kindern entstehen Schuld- und Verantwortungsfühle, weil sie die elterlichen Bedürfnisse bisher – vermeintlich – nicht erfüllen konnten. Außerdem können Gefühle von Wut und Aggression auftreten, da man selbst nicht mehr Kind sein kann. 1Die überfordernde Parentifizierung kann vor allem in Kombination mit anderen belastenden Kindheitserfahrungen (wie z. B. sexuellem Missbrauch auch das spätere Auftreten von psychischen Gesundheitsproblemen begünstigen. 3

    Insgesamt ist es wichtig, dass andere Familienmitglieder oder Vertrauenspersonen außerhalb der Familie die Bedürfnisse der Kinder erkennen und ihnen die Unterstützung geben, die sie benötigen. Dies kann die Kinder in die Lage versetzen, ihre Situation positiv wahrzunehmen. Damit gelingt es ihnen häufig, trotz der Aufgabenüberlastung und anderer Widrigkeiten im Elternhaus, in der Schule gute Leistungen zu erbringen. Dabei können ein guter Gesundheitszustand, das schulische Umfeld, Freunde, Hobbys und Geschwisterbeziehungen oder andere familiäre Bindungen Entlastung und Unterstützung bieten und damit die kindliche Entwicklung positiv beeinflussen. 2

    Abschließend muss betont werden, dass es auch eine sogenannte „natürliche“ Parentifizierung geben kann. Diese entsteht häufig im Laufe des Lebens, wenn erwachsene Kinder die gealterten Eltern pflegen oder diese fürsorglich unterstützen.

     

    1. Polz, J. (2018). Wenn Kinder zu Eltern werden. Parentifizierung als Chance oder Risikofaktor für die kindliche Entwicklung. Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie, S. 47–59. Zugriff am 06.01.2023. Verfügbar unter: https://journals.sfu.ac.at/index.php/zfpfi/article/view/201[][]
    2. Borchet, J., Lewandowska-Walter, A., Połomski, P., Peplińska, A. & Hooper, L. M. (2021). The Relations Among Types of Parentification, School Achievement, and Quality of Life in Early Adolescence: An Exploratory Study. Frontiers in Psychology, 12, 635171. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.635171[][]
    3. Schier, K., Egle, U., Nickel, R., Kappis, B., Herke, Max et al. (2011). Parentifizierung in der Kindheit und psychische Störungen im Erwachsenenalter. Psychother Psych Med, S. 364–371.[][]