Gene sind Teil des Bauplans eines Lebewesens und geben vor, wie sich dieses entwickelt. Welche Gene wir haben, ist abhängig von den Erbanlagen unserer Eltern, von denen wir jeweils die Hälfte erben. Wie unsere Entwicklung verläuft, hängt jedoch nicht nur von diesen Anlagen, sondern in erheblichem Ausmaß auch von unserer Umwelt ab. Zu dieser Umwelt zählen z. B. Stress, Krankheiten, Gifte, Ernährung oder Beziehungen. 

    Wie kann man sich das bildlich vorstellen? Um diesen Zusammenhang zu veranschaulichen, nehmen wir das Bild eines Orchesters. Die Gene stellen hierbei die Noten dar. Wie das Lied letztendlich klingt, ist jedoch von mehr abhängig, als von der Komposition des Musikstücks. Die Zellen, aus denen unser Körper besteht, gleichen den Musikern, die das Stück nach den Vorgaben der Dirigentin aufführen. Die Dirigentin ist hierbei die Epigenetik, die vorgibt, was und wann gespielt wird. Sie beschäftigt sich mit Prozessen, welche die Genaktivität beeinflussen, ohne dabei die Gene zu verändern. Zum Beispiel, ob Gene “eingeschaltet” oder “ausgeschaltet” werden. In der Medizin sind diese Vorgänge mit Blick auf das Entstehen von Krebstumoren oder Suchtkrankheiten von besonderem Interesse. Im Gegensatz zur Genetik interessiert sich die Epigenetik nicht so sehr für die Vererbung zwischen Generationen, sondern vor allem für Veränderungen innerhalb einer Person.1

    Zum Beispiel können belastende Kindheitserlebnisse dazu führen, dass im späteren Leben mehr Stresshormone ausgeschüttet werden und die Betroffenen stärker unter Stress leiden. Hiermit steigt z. B. das Risiko, an Depressionen zu erkranken. Dabei stechen vor allem die Gene hervor, die für die Stressreaktion verantwortlich sind. Menschen unterscheiden sich in ihrer Antwort auf Stress. Die selbe Situation kann bei verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Zum Beispiel würde eine Person mit Höhenangst auf einer Dachterrasse vermutlich Herzrasen bekommen, eine Person ohne Höhenangst jedoch nicht. Frühere Erlebnisse können beeinflussen, wie wir mit Stress zurechtkommen. So wurden bei Kindern, die häusliche Gewalt miterlebten, epigenetische Veränderungen beobachtet, die mit einer erhöhten Stressreaktion einhergehen. Hierdurch wurden die Kinder stressanfälliger. Laut den Wissenschaftler:innen sind diese Veränderungen zunächst nützlich und helfen den Kindern mit den Belastungen klar zu kommen. Auf lange Sicht kann es aber das Risiko für psychische Störungen erhöhen.2

    Nicht nur was wir in der Kindheit erleben, kann uns in dieser Hinsicht beeinflussen. In Studien wurde herausgefunden, dass Stress in unterschiedlichen Entwicklungsphasen zu epigenetischen Veränderungen führen kann, von vor der Geburt bis ins Erwachsenenalter.3 Grundsätzlich ist der Einfluss von Stress in der Kindheit aber größer und langanhaltender als später erlebter Stress. 

    Negative Erlebnisse können also zu Veränderungen führen, die uns stressanfälliger machen. Der Mechanismus funktioniert aber auch andersrum. So können positive Erlebnisse in der Kindheit uns weniger anfällig für Stress machen. In einer Studie wurde zum Beispiel herausgefunden, dass Kinder, die gestillt wurden, epigenetische Veränderungen aufwiesen, die mit einer niedrigeren Stressanfälligkeit einhergingen.4 Dies steht wiederum im Zusammenhang mit einem niedrigeren Risiko für psychische Störungen.  

    Wichtig zu betonen ist auch, dass wir aktiv Dinge tun können, die zu positiven Veränderungen beitragen. Eine gesunde Ernährung und körperliche Aktivität kann zum Beispiel zu epigenetischen Veränderungen führen, die das Risiko für Herzerkrankungen und Krebs reduzieren.5 Auch Meditation kann die Stressanfälligkeit reduzieren. Wir sind also mit unserem Erbgut geboren, haben aber einen Einfluss darauf, ob bestimmte Gene “eingeschaltet” werden, oder nur in uns schlummern. 

     

     

    1. National scientific council on the developing child. (2010). Early experiences can alter gene expression and affect long-term development. https://developingchild.harvard.edu/resources/early-experiences-can-alter-gene-expression-and-affect-long-term-development/[]
    2. Serpeloni, F., Radtke, K. M., Hecker, T., Sill, J., Vukojevic, V., Assis, S. G. D., … & Nätt, D. (2019). Does Prenatal Stress Shape Postnatal Resilience? – An Epigenome-Wide Study on Violence and Mental Health in Humans. Frontiers in genetics, 10, 269.[]
    3. Dion, A., Muñoz, P. T., & Franklin, T. B. (2022). Epigenetic mechanisms impacted by chronic stress across the rodent lifespan. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8841894/[]
    4. Lester, B. M., Conradt, E., LaGasse, L. L., Tronick, E. Z., Padbury, J. F., & Marsit, C. J. (2018). Epigenetic Programming by Maternal Behavior in the Human Infant. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6192679/[]
    5. Lin, D.-C. (2021). Exercise impacts the epigenome of cancer. Prostate Cancer and Prostatic Diseases. https://doi.org/10.1038/s41391-021-00396-3[]